Im Reich der Könige

Ein röhrender Hirsch, von Marcel Grichting fotografiert. Am Spannendsten sei es im Herbst, wenn die Hirsche in der Brunft seien, sagt Grichting, Wallis, Schweiz

Der Rothirsch ist der König der Wälder. Und Marcel Grichting geht auf die Pirsch, um ihn zu finden. Mit dem Fotoapparat.

Das kleinste Knacken, die minimalste Bewegung oder das leiseste Hüsteln reicht, dass Marcel Grichting während Stunden allein bleibt. Er hat sich also antrainiert, völligregungslos mit der Landschaft zu verschmelzen, ganz so, als wäre er selber zu einem Baumstumpf oder einem übermoosten Stein geworden. So sitzt er da und wartet. Wartet darauf, dass sich ihm ein Hirsch auf dem Gang durch den Wald nähert. “Ich bin nur ein Gast in ihrem Reich. Sie entscheiden, was sie mir geben wollen”, sagt der 57-Jährige, der mit der Fotokamera auf die Pirsch geht. Die Zeit in der Natur sei nie verloren, auch wenn er nicht auf den Auslöser drücken könne. “Ist man selber ganz still, hört man unzählige Geräusche und sieht den ganzen Reichtum der Natur. Mir ist nie, wirklich nie langweilig.”

Es brauchte etwas Zeit, bis Marcel Grichting diesen meditativen Zustand erreichte und bis er das passende Material für seine Passion zusammenhatte. Dass die Fotografie zu seiner Leidenschaft werden sollte, hatte sich schon früh entschieden. Als kleiner Junge hatte er in einem alten, unbewohnten Haus in seinem Heimatdorf Mühlebach einen Bildband entdeckt. „Er lag auf dem Boden, und ich kehrte immer dahin zurück, um darin zu blättern.“  Als Jugendlicher kaufte er sich dann seine erste Kompaktkamera, später eine Spiegelreflex, er lernte Bilder zu entwickeln, verbrachte Stunden in der eigenen Dunkelkammer. Später arbeitete er sich in die digitale Fotografie ein. Das ist die technische Seite. In dieser Zeit entwickelte er sich aber auch zum aussergewöhnlich versierten Wildtierfotografen. Auf seiner Facebook-Seite „Wild & Nature Photography Marcel Grichting“ folgen ihm über 5500 Fans. Und sie werden belohnt mit berührenden Bildern der Könige der Wälder, aber auch von Gämsen, Rehen, Eichhörnchen, Adlern oder Wildhühnern. „Das Fotografieren der Wildtiere hat meinen Blick für die Natur geschärft“, erzählt Grichting.

Marcel Grichting getarnt auf einem Hügel auf der Pirsch, Wallis, Schweiz

Verfeinert hat sich auch seine Pirsch: Er benützt einen Tarnkittel, und seine Kamera lässt sich lautlos auslösen. „Die Tiere hören den Auslöser auf 50 bis 60 Meter“, weiss er. Auch hat er sich angewöhnt, vor dem Waldgang nur mit Wasser zu duschen, da die feine Nase der Hirsche auch den kleinsten Geruch wahrnimmt. Er weiss genau, wo er sich positionieren muss, und hat sich einen Spray zugelegt, der den Hirschen vorgaukelt, er sei einer der ihren. Auch einen Hirschrufer benützt er ab und an. In den Wald geht er meist zwischen sechs und elf Uhr morgens und von drei bis sieben Uhr nachmittags. Seine Tarnung funktioniert so gut, dass ihn Wanderer kaum bemerken. Und oft auch die Tiere nicht. „Eindrücklich ist, wenn ich frühmorgens allein im Wald bin und den Hirschen so nahe komme, dass ich sie rieche“, erzählt er. Wenn sie dann noch röhren, „geht das unter die Haut. Das sind Momente, die man nie vergisst.“

Marcel Grichting mit Hirschrufer und Tarnkittel im Wald, Wallis, Schweiz

Doch das Leben des Marcel Grichting besteht nicht nur aus Fotografieren. Er arbeitet als Postautochauffeur im Wallis. „Ich habe Koch gelernt und arbeitete ein paar Jahre auf dem Beruf, aber es hat mich nicht erfüllt.“ An seiner heutigen Arbeitsstelle hingegen ist er rundum glücklich: „Ein Postauto zu fahren, braucht viel Konzentration, aber man ist in der Natur und erlebt die Jahreszeiten intensiv.“ Eine seiner Lieblingsstrecken ist der Simplonpass, wegen dessen Weite und dem freien Blick in die Natur. „Dabei spielt es keine Rolle, wie das Wetter ist, ob Sonne, Regen oder Schnee, die Simplonlinie ist immer ein Erlebnis“, schwärmt Marcel Grichting. Aber auch knifflige Strecken hat er gern, beispielsweise die Haarnadelkurven auf der steilen Strasse von Brig Richtung Blatten oder die Linie, die ins Safrandorf Mund führt. „Wenn ich mit dem Postauto den Simplonpass überquere, werde ich manchmal um einen kurzen Fotohalt gebeten. Wenn es die Zeit erlaubt, ist das für mich selbstverständlich, denn damit kann ich den Menschen eine Freude machen.“ So schliesst sich der Kreis von Freizeit und Arbeit. Respekt gegenüber anderen, Verständnis, Geduld und Verantwortungsbewusstsein – all das braucht er als Postautochauffeur. Aber auch als Wildtierfotograf.

Zitat

Verborgen im Tarnkittel und völlig still wartet Marcel Grichting im Aletschwald auf das Auftauchen eines Rothirsches. Manchmal stundenlang. Manchmal, ohne einmal abzudrücken. Der Postautochauffeur und Natur-und Wildlifefotograf wird so selber zu einem Teil der Natur. Die Tiere hören den Auslöser der Kamera auf 50 bis 60 Meter. Deshalb funk-tioniert Marcel Grichtings Kamera lautlos.

Marcel Grichting ist Fotograf und versucht den Rothirsch zu fotografieren, Wallis, Schweiz
Hotel Cervo mit Blick auf das Matterhorn in Zermatt. Wallis, Schweiz.

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Text: Monique Ryser Fotos: Pascal Gertschen

Publiziert: September 2021

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